03.07.2011

Die Ukraine und die labile Kondition des reisenden Westlers

Einige Tage dauernder Aufenthalt in der Ukraine reicht aus, um die Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten Europas zu erkennen und zuweilen schmerzhaft (obgleich niemals auf langweilige Art und Weise) zu spüren. Man bestellt das Essen - wo auch immer und wie teuer auch immer - und muss damit rechnen, ewig warten zu müssen, jedenfalls viel länger als etwa in der Dienstleistungswüste Regensburg, wo (gemäß unverbindlichen Gesprächen mit den in Restaurants Beschäftigten) mittlerweile fast ausschließlich illegal kochende Ausländer und studentische Bedienung die Gastronomie schmeißen. Um wiederum in ein Hotel einzuziehen, muss man in eigener Sprache ein idiotisches Formular ausfüllen, auf dem neben dem Namen und der Adresse, der Passnummer auch der Zweck der Reise einzutragen ist. Diese Pflicht wird weder durch den Umstand sinnvoller, dass in der Hotelrezeption normalerweise keiner Fremdsprachen spricht, noch durch die Tatsache weniger absurd, dass es im gleichen Land mehrere Hotels gibt, wo auf dieses direkt aus dem Kommunismus kommende Prozedere ganz verzichtet wird.

Ja, der Osten unseres Kontinents ist irgendwie unbestimmt, schwer fassbar, kaum durchdrungen durch die Rationalität und die klar erkennbaren: Ordnung sowie Organisation. Der Spießer aus dem Westen kann darüber nur hochnässig meckern. Er wird sagen: "Bei uns in Deutschland gibt es keine Ziegen und Kühe auf der Straße, das ist zu gefährlich". Oder: "Bei uns wartet man nicht so lange auf das Essen im Restaurant". Er wird zudem monieren: "Bei uns kriegt man das für sein Geld, was es wert ist". Am Ende wird er sich aber mit der Situation mit dem unschlagbar "westlichen" Argument versöhnen: "Bei uns ist es aber schon viel teurer als hier". Dieser Mensch wird nach einigen Tagen in sein Heimatland zurückkommen und genauso dumm bleiben, wie er war, als er seine Ukraine-Reise antrat.

Der denkende westliche Besucher wird sich dagegen auf das ihm unbekannte Land einlassen. Und dann wird er die Gelegenheit haben, sich für einige Zeit von den eigenen Gewohnheiten zu lösen und dadurch auf eine Reise nicht nur in die Ukraine, sondern auch zu sich selbst zu begeben. Wie ist das möglich? Das kann man mit einem Beispiel des UPA-Denkmals in Lemberg (Lviv) erklären. Um dieses Beispiel verständlich zu machen, muss allerdings zuerst ein bißchen historisch ausgeholt werden.

"UPA" das ist die Abkürzung für die "Ukrainische Aufständische Armee", die im Zweiten Weltkrieg den militärischen Arm der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (UONb) darstellte, der u.a. die heute in der Westukraine als Nationalhelden verehrten Stepan Bandera (das kleine "b" in der Abkürzung "UONb" weist eben auf Bandera als den Führer der Organisation hin), Roman Schuhewytsch sowie der erste Oberbefehlshaber der UPA, Dmytro Kljatschkiwskij, angehörten. Den beträchtlichen Teil der UPA-Soldaten bildeten die Deserteure aus der ukrainischen Polizei. Diese war nach der Besatzung des Landes von den Deutschen geschaffen worden, die zwar es nicht vor gehabt hatten, einen unabhängigen ukrainischen Staat aufzubauen und deshalb sogar Stepan Bandera in Sachsenhausen verhafteten. Die Okkupanten griffen jedoch gerne auf die Unterstützung der Ukrainer, auch mittels der besagten Polizeieinheiten, etwa beim Holocaust und bei der Verfolgung von Polen, zurück. Mit der gezielten Bevorzugung der Ukrainer gelang es den Deutschen, Animositäten zwischen den Ethnien und Nationen der Ukraine für sich zu nutzen.

Die große Welle der Fahnenflucht der ukrainischen Polizisten begann, nachdem die UONb erkannt hatte, dass Deutschland den Krieg verlieren würde - es war Anfang 1943. Eben damals (Februar 1943) hat die UONb aufgehört, Hitler-Gruss zu benutzen, und befahl der UPA, gegen das deutsche Militär vorzugehen. Die Deutschen waren jedoch in den von Ihnen besetzten Städten für die UPA zu stark, weshalb deren Hauptbeschäftigung im Jahre 1943 darin bestand, auf den Befehl von Kljatschkiwskij hin alle in Wolhynien (eine Region in der Westukraine) lebenden Polen umzubringen. In Bezug auf das südlich von Wolhynien liegende Galizien wurde demgegenüber ein "humanerer" Befehl gegeben: die polnischen Frauen und Kinder sollten verschont werden (selen hat sich die UPA bei der Durchführung ihrer galizischen Aktionen an diese Einschränkung gehalten). Das Wolhynien-Massaker war aus der Sicht der UPA ein großer "Erfolg": Es hat gemäß den Untersuchungen der polnischen und ukrainischen Historiker zwischen 60 000 und 100 000 polnische Zivilisten das Leben gekostet. Es verlief so grausam (sehr oft wurden Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise ebenso wie Männer gefoltert, bevor Ihnen der Gnadeschlag mit Axt, Stein oder Mistgabel den Kopf oder Wirbelsäule endgültig zerschmetterte), dass es auch heute eigentlich nicht möglich ist, Berichte darüber zu lesen.

Was hat das alles mit dem Entdecken der Unbestimmtheit des Ostens und der osteuropäischen Reise zu sich selbst zu tun? Schon etwas. Wenn man nämlich über die Verbrechen der UPA Bescheid weiß, ist man zumindest äußerst verwundert, in der wunderbaren Stadt Lemberg an der Außenwand des wunderbaren Lytschakiwsky-Friedhofs ein gar nicht wunderbares Monument vorzufinden, das - wie ich vermute - nach der Jahrtausendwende zu Ehren der UPA aufgestellt worden ist.

Das Monument stellt eine lange, mit glänzenden Platten abgedeckte Wand dar, in deren Zentrum der goldene Dreizahn - das ukrainische Wappen - montiert ist (siehe Foto unten). Vor der Wand stehen Kreuze an den symbolischen Gräbern der "unbekannten Soldaten" der UPA.

Sobald sich der Betrachter der Wand angenähert hat, weicht seine Verwunderung über diese Ehrenbietung dem Staunen über die Billigkeit des Denkmals. Die Platten entpuppen sich als große Fliesen vom irgendeinen Baumaterial-Discounter, die woanders bestenfalls eine öffentliche Toilette schmücken würden. Auch die Bauweise erweist sich als unprofessionell, was nicht zuletzt eine bereits abgefallene Platte demonstriert.

Schaut man sich das Werk wiederum von hinten an, sieht man die unverputzte Hinterwand, die aus einem derart schäbigen Material gebaut wurde, dass Ytong im Vergleich dazu Marmor-Qualitäten aufweist (siehe unten).


Spätestens bei der Betrachtung dieser Hinterwand beginnt der Besucher zu hoffen, dass das Denkmal doch nicht umfällt, obwohl er sich bei dessen erstem Anblick noch nichts mehr als eben das gewünscht hatte.

Ein Denkmal zu Ehren einer Töte-Gezielt-Zivilisten-Armee, das weniger empört als es Mitleid für das schäbig zusammengeklebte Baumaterial hervorruft - das ist für den Osten Europas symptomatisch. Die schiefe Form und der schiefe Inhalt kommen irgendwie zusammen. Ungeachtet aller positiven Entwicklungen ist der europäische Osten auch nach dem Kommunismus imstande, Werke zu schaffen, die die westlichen geistigen und materiellen Standards geradezu verhöhnen. Lässt sich der westliche Besucher auf diese Wirklichkeit ein, verliert er seine kulturellen Koordinaten: Seine moralisch bzw. (und) intellektuell motivierte Empörung über das Denkmal für die UPA kann ihm plötzlich weniger wichtig werden als der Impuls, das schäbig gebaute Monument doch noch zu retten (an diesem Impuls ändert selbst die Wüdigung zweier ukrainischen SS-Divisionen mit einem anderen Denkmal auf dem Gelände des selben Friedhofs - siehe Bild links unten - nichts).

Die schnelle Leichtigkeit, mit der der Reisende in den Zustand einer derartigen Unsicherheit versetzt wird, wirft die Frage auf, was wir Menschen sind. Die ukrainische Erfahrung stützt jedenfalls die These, dass wir beinahe ausschließlich Produkte der jeweils kulturell bedingten Sozialisierung darstellen. Treten wir aus dem Kontext unserer Sozialisierung heraus, drohen wir innerlich ins Wanken zu geraten. Hoffentlich ist dem doch nicht so...

Alleine aber um solche Fragen aufwerfen zu können, lohnt es in die Ukraine, der übrigens aus politischen Gründen endlich die EU-Beitrittsperspektive gegeben werden sollte, zu fahren. Damit man sich freilich nicht ausschließlich über Kühe und Ziegen auf den ukrainischen Straßen wundert, soll man vor der Abreise schon ein gutes Buch über das Land gelesen haben. So ist es im Leben: Ohne Kopfarbeit keine Erkenntnis. Und kaufen lässt sich die Erkenntnis ohnehin nicht, selbst in einem Niedriglohnland.